Eine kurze Geschichte des Korsetts

von den Anfängen bis heute

 

Definition


Ein Korsett ist ein durch diverse Einlagen versteiftes Kleidungsstück, dessen Zweck es ist, den Oberkörper der jeweils geltenden Modelinie entsprechend zu formen. Bis auf wenige Ausnahmen v.a. im 19. Jh. war das Korsett ein weibliches Kleidungsstück. Der Begriff "Korsett" wurde erst im 19. Jh. gebräuchlich; davor sprach man von Mieder (Frauenzimmer-Lexicon, 1715), Leibstück (Briefe der Liselotte von der Pfalz, um 1720), Schnürleib oder Schnürbrust (Journal des Luxus und der Moden, 1780er). In deutschen Nachlaßinventaren des 18. Jh. taucht mitunter zwar der Begriff "Corset" oder "Korset" auf, aber dabei handelt es sich wahrscheinlich um ein anderes Kleidungsstück: Während in französischen Texten (z.B. Garsault, Diderot) die eigentliche Schnürbrust corps genannt wird, bezeichnet corset dort ein schwach versteiftes Mieder mit angenestelten Ärmeln.

Renaissance und Barock

Schnürbrust der 1660er

Die Ursprünge des Korsetts liegen im Dunkeln. Aus dem frühen 16. Jh. sind eiserne, korsettähnliche Käfige erhalten1, die mit ziemlicher Sicherheit nichts mit normaler Kleidung zu tun haben, sondern entweder frühe Fetisch- bzw. Bondage-Utensilien oder brachiale Orthopädie-Versuche darstellen dürften. Zeitgenössischen Darstellungen nach zu urteilen müssen spätestens um 1530 versteifte Oberteile getragen worden sein, da sich nur so die gerade, konische Linie des Oberkörpers erzielen läßt, die man in den Portraits z.B. der Venezianerinnen oder der Eleanora di Toledo sieht. Der Ausschnittrand liegt relativ hoch und drückt die Brust eher flach als hinauf.

Aus dem späten 16. bis späten 17. Jh. sind bereits Schnürbrüste erhalten, aber nur wenige. Möglicherweise liegt das daran, daß bis tief ins 17. Jh. häufig die Kleidoberteile selbst versteift wurden2, so daß ein zusätzliches Korsett nicht nötig war. Erst gegen Ende des 17. Jh. trennt sich das formende Mieder oder Leibstück endgültig vom darüber getragenen Kleidoberteil3. Nun wird nicht mehr eine Kombination von Rock und steifem Oberteil gertragen, sondern eine Kombination von Rock und Jacke oder Rock und Robe über einer steifen, zur Unterwäsche degradierten Schnürbrust.

Link: 1640er Schnürbrust (Manchester Gallery)

Schnürbrust der 1770er*

18. Jahrhundert

Im 18. Jahrhundert ist die Schnürbrust definitiv Unterkleidung. Nur bei der Robe à l'Allemande hält sich das steife Oberteil (also Korsett und Oberteil in einem) noch bis ca. 1730, bei der französischen Hofrobe noch länger. Die Form unterscheidet sich kaum von der des späten 17. Jahrhunderts: Konisch, die Brüste nach oben und zuammendrückend, mit Zaddeln am unteren Ende. Die Zaddeln entstehen durch Einschnitte von der Unterkante bis hoch zur Taillenline, die sich im angezogenen Zustand auseinanderspreizen, um der Hüfte Raum zu geben. Sie verhindern, daß das Taillenband des darübergetragenen Rockes unter die Schnürbrust kriecht. Da die versteifenden Stäbe bis in die Zaddeln reichen, nehmen sie auch den Druck von der Taille und verhindern so schmerzhafte Reibstellen.

Es gibt Schnürbrüste mit Rückenschnürung (bei Diderot corps fermé genannt, also [vorn] geschlossene Schnürbrust) und solche, die über einem versteiften Stecker geschlossen werden, indem die Schnürung über den Stecker hinweg durch Ösen oder Geschnürhaken geführt wird (corps ouvert, also offene Schnürbrust). Solche mit Vorder- und Rückenschnürung sind eher selten; ausschließlich vorn geschnürte sind noch seltener und mir bisher nur aus dem süddeutschen Raum bekannt. Aus der letztgenannten Form erntwickeln sich im frühen 19. Jh. die Trachtenmieder. Die Schnürung besteht bei allen diesen Formen aus nur einer Schnur (pro Schnürung, versteht sich), deren eines Ende an der ersten Öse festgeknotet wird; das andere wird spiralig durch die Ösen geführt und am Ende wiederum festgeknotet.

Schnürbrüste des 18. Jh. sind, obwohl sie nicht zu sehen waren, oft sehr dekorativ mit fein abgesteppten Tunneln für die Fischbeinstäbe, kostbarem Seidenlampas als Oberstoff und/oder Goldborten. Die Innenseite hingegen ist auch bei den von außen feinen Schnürbrüsten oft regelrecht grob gearbeitet.

Die grundlegende Form der Schnürbrust ändert sich das ganze Jahrhundert lang nicht. Zum Schluß hin, um 1790, als die Taillen der Kleider allmählich höherzurutschen beginnen, wird das Korsett etwas kürzer. Da keine Paniers mehr getragen werden, wird der Rock von kleinen halbmond- oder ballförmigen Polstern, die auf den Zaddeln befestigt sind, aufgebauscht und auf der Taillenhöhe gehalten. Zur gleichen Zeit verschaffen sich aufgeklärte Ärzte immer mehr Gehör4, die vor den gesundheitlichen Folgen des Schnürens warnen. Zwar wird im 18. Jh. gewöhnlich nicht so eng geschnürt wie im darauffolgenden Jahrhundert, aber dafür umso früher damit angefangen. Das beginnt mit dem fatschen der Säuglinge und setzt sich mit Kinderkorsetts fort, so daß das noch weiche Skelett frühzeitig "in Form gebracht" wird.

Aber Achtung: Bis auf wenige Ausnahmen, die meines Wissens nicht erwiesen sind, wurde weder das Fatschen noch das Schnüren von Kindern in schädlicher Weise übertrieben. Die wenigen erhaltenen Kinderkorsetts (z.B. in Ludwigsburg) waren nur mit Schnüren versteift. Ich glaube, man wußte durchaus um die möglichen Gefahren und nahm sie ernst.

Directoire und Empire

Ab 1794 rutscht die Taille höher und sitzt um 1796 fast direkt unter der Brust. Dies ermöglicht - und erfordert - eine neue Variante des Korsetts, das nicht mehr bis zur natürlichen Taille hinabreicht – schließlich muß eine Taille, die als solche nicht mehr sichtbar ist, auch nicht zusammengeschnürt werden. Entsprechend der neuen Ästhetik werden die Brüste zwar noch angehoben, aber nicht mehr, wie zuvor, gegeneinanderdrückt, sondern sie bleiben getrennt. Zu diesem Behufe werden erstmals Körbchen eingesetzt. Das Blankscheit, das im 17. Jh. noch die vordere Mitte des Mieders begradigen sollte, dient nunmehr dazu, die Körbchen voneinander zu trennen. Die Form ist nun nicht mehr konisch, sondern folgt der natürlichen Körperform. Die Körbchen und die Rundung der Hüfte werden durch eingesetzte Keile realisiert.

Da bei schlanken Gestalten die Brust auch durch ein festes Kleidfutter angehoben werden kann, tragen wohl hauptsächlich Dicke und überdurschnittlich Gesegnete noch Korsetts oder Kurzmieder, deren einzige Aufgabe es ist, die Brust zu stützen. Dementsprechend sind aus dieser Zeit nicht allzuviele Korsetts erhalten. Anders als im 18. Jh. sind sie eher schlicht und funktionell gestaltet. Da weniger Versteifung und Formkraft als bisher nötig ist, orientiert man sich möglicherweise bei der Benennung an den schwach gesteiften Miedern, die im französischen corset heißen. Das ist wohlgemerkt nur eine Theorie, aber es würde erklären, warum vor 1790 nur von Schnürbrust/corps die Rede ist, ab den 1820ern aber von Korsett/corset.

Biedermeier bis Gründerzeit

Als in den 1820ern die Taille sich allmählich wieder auf ihre natürliche Lage zu bewegt, kehren auch die Korsetts zurück. Nun erst werden sie ganz allgemein als Korsetts bezeichnet und nicht mehr als Schnürbrust. Bis in die 1840er können jene, die es nicht nötig haben, noch darauf verzichten, ohne scheel angesehen zu werden. Zwischen 1815 und 1830 werden die Schnürösen manchmal nicht umstochen, sondern mit Elfenbeinringen verstärkt. Daß diese Ringe geschnitzt werden mußten und leicht brechen, hat wohl dazu geführt, daß 1828 Schnürösen aus eingeschlagenen Metallringen patentiert wurden1, wie man sie heute noch benutzt.

Korsetts von 1890

Ein Jahr später1 kam das Planchet: Zwei Metallschienen mit Köpfchen auf der einen, Ösen auf der anderen Seite, die als Verschluß dienen. Nun muß nicht mehr jedesmal die gesamte Schnürung eingefädelt werden, wenn das Korsett angelegt wird. Dadurch kann die Schnürung stark verändert werden: Beide Enden der Schnur werden kreuzweise durch die Ösen geführt (wie bei Schuhbändern) und am Ende miteinander verknotet. Auf Taillenhöhe wird die Abfolge unterbrochen: Die Schnurenden treten nach außen, werden dann auf der gleichen Seite durch das nächste Ösenpaar nach innen geführt und dann wieder kreuzweise wie zuvor. Dadurch bilden sich zwei Schlaufen, an denen man zieht, um die Weite zu regulieren. Daß die Schlaufen auf Taillenhöhe sitzen, erleichtert es, genau dort den meisten Zug auszuüben, d.h. die Taille besonders eng zu schnüren, die Brust und Hüfte aber weniger. Durch die Metallösen rutscht die Schnur besser. Diese Art der Schnürung hält sich bis heute.

Um die Jahrhundertmitte werden Korsetts wieder unabdingbar. Die Form ist nun bereits jene sanduhrartige, die man auch heute noch mit Korsetts assoziiert. Während die Korsettschneider noch mit teilweise recht komplizierten, wilden, futuristisch anmutenden Schnitten experimentieren – die Form ist ja noch neu –, bleibt die Optik eher schlicht. Ab etwa 1860, als sich einige wenige Schnitte durchgesetzt haben, achtet man wieder mehr auf schöne Stoffe und elegante Linien: Aus der Zeit um 1870-90 sind sehr sorgfältig gearbeitete Korsetts in vielen Farben erhalten, mit Oberstoff aus Satin, mit us Leder aufgesetzten Stabtunneln und funktionalen, aber sehr dekorativ und aufwendig ausgeführten Details.

Da bis ca. 1870 die Krinoline alles von der Taille abwärts verbarg, endeten die Korsetts nur einige Zentimeter unterhalb der Taille. Später liegt das Kleid zumindest vorn enger am Körper an, so daß das Korsett länger wird, um auch die Hüfte zu formen. Die Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt um 1880, als die herrschende Modelinie (Küraßmode, nach frz. cuirasse=Panzer) den Körper bis tief hinunter zur Hüfte auf allen Seiten eng umschloß. Der Bauch wird durch eine neue Form des Planchets gezähmt, aber nicht plattgedrückt: Das geschwungene, unten birnenförmig breiter werdende Löffelplanchet (im Bild oben rechts das rechte Korsett) drückt bei starker Schnürung die Taillenlinie auch von vorn her ein, läßt aber dem Unterbauch umso mehr Platz - aber nicht zu viel. In den 1890ern wird die Tailleneinschnürung enger als je zuvor5, und wieder werden die Warnrufe der Ärzte lauter.

Belle Epoque bis Erster Weltkrieg

Korsett von 1902

Dann ändert sich die Form des Korsetts abermals, zunächst um den Warnungen der Ärzte Rechnung zu tragen. Indem nämlich das geschwungene Löffelplanchet die Magengegend einengt, unten aber Platz läßt, wird die Körpermasse (inklusive der inneren Organe (wie man damals vermutete, ohne dafür wissenschaftliche Beweise zu haben) nach unten gedrückt. Es wird durch ein gerades Planchet ersetzt, das der Magengegend mehr Platz lassen soll. Auch die Brüste sollen sich frei entfalten können, also endet das neue Korsett unterhalb davon.

Die Mode nahm die neue Form nicht nur an, sondern übertrieb sie derart, daß das Planchet den Unterbauch und die ganze Hüfte nach hinten wegdrückte und eine leicht vorgeneigte, ins Hohlkreuz fallende Haltung begünstigte, die

Korsett von 1914

sogenannte S-Linie. Diese unnatürliche Haltung macht das ursprünglich gutgemeinte Korsett unbequemer als jedes zuvor und verursacht – behaupten zumindest zeitgenössische Ärzte – Schäden am Bewegungsapparat. Das Korsett reicht nun tief über die Hüften hinab und trägt am unteren Ende erstmals elastische (und ziemlich lange) Bänder mit Clips, um die Strümpfe zu halten. Da zwischen Korsett und Strümpfen noch das lange Hemd und ein Beinkleid liegen, müssen beide etwas hochgezogen und geknüllt werden, damit die Strumpfhalter die Stümpfe überhaupt erreichen können - eine weitere Unbequemlichkeit, die zum Aussterben des Korsetts und des langen Hemdes beigetragen haben mag.

Die erstarkte Frauen- und die Reformbewegung sowie progessive Modeschöpfer wie Poiret sorgen dafür, daß diese als äußerst ungesund empfundene Mode nicht lange anhält: Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges befindet sich das Korsett im Niedergang. Reformkleider hatte es schon länger gegeben, aber sie waren als Sackkleider verschrien und z.T. auch nach heutigen Maßstäben ziemlich unförmig. Ab ca. 1905 aber finden sich in Modezeitschriften vermehrt Reformkleider, die zumindest auf das heutige Auge recht schick wirken. Die Mode erlaubt es nun, elegante Kleider auch ohne Korsett zu tragen. Trotzdem gibt es noch einige Jahre lang Korsetts, aber die S-Linie schwächt sich ab, das extreme Engschnüren gerät aus der Mode, elastische Einsätze sorgen für mehr Bequemlichkeit. Die Korsetts ab 1910 enden unterhalb der Brust, reichen aber tief hinab. Die sogenannte Kriegskrinoline (1915/16) mit hohen Taillen und weiten Röcken macht auch diese langen, geraden Korsetts unnötig.

1920er bis 1950er Jahre

Hüfthalter und BH, 1939

Im Zuge der geradlinigen, taillenlosen Garçonne-Mode der 1920er werden aus den vormaligen Korsetts kaum versteifte Hüfthalter mit mehr oder weniger elastischen Teilen, die von unter der Brust bis weit über die Hüfte reichen und nicht etwa die Taille, sondern die Hüfte schmaler erscheinen lassen sollen. Die Brust wird nun vom BH gestützt und, falls nötig, auf ein "burschikoses" Maß reduziert. Auch in den 30ern und frühen 40ern wird die Hüfte vom Hüfthalter eingeengt, die Taille aber weitgehend in Ruhe gelassen.

Erst der Style Nouveau von Dior rückt 1947 die Taille wieder in den Mittelpunkt. Seine Modelle setzen auf eine extrem schmale Taille und breite Hüfte, so daß Korsetts, zumindest in der abgespeckten Variante des Taillenkorsetts, eine kurzzeitige Renaissance erleben. Aber schon in den 50ern kehrt man zu vollelastischen Hüfthaltern ganz ohne Stäbe zurück – die dann zum Teil schon unter Hosen getragen wurden – und auch die geraten allmählich aus der Mode.



Heute

Zu erotischen Zwecken dürften Korsetts ohne Unterbrechung getragen worden sein, aber aus der allgemeinen Mode waren sie seit dem Ersten Weltkrieg verschwunden. Erst Madonna, mit Unterstützung ihres Leib-und-Magen-Designers Gaultier, brachte in den 80er Jahren Korsetts wieder ins Gespräch, diesmal aber als Oberbekleidung. Diese Variante hat allerdings mit einer Corsage mehr Ähnlichkeit als mit einem "richtigen" Korsett im Sinn des 19. Jh. Nur selten werden heute richtige Korsetts getragen – manchmal als modische Aussage obendrüber, eher aber von Liebhaberinnen untendrunter. Manchmal aus historischem Interesse, eher aber wegen der erotischen Assoziation. Ob Taillenkorsetts, Unterbrust-, Halbbrust- und Vollbrustkorsetts: Die Grundform und Trageweise entspricht in etwa der von 1860-80, nur daß die Taille normalerweise nicht annäherend so sehr eingeengt wird. Das ist bei einem normalen, nicht frühzeitig verformten Brustkorb aber auch nicht möglich, ohne daß es ziemlich unästhetisch aussieht.

Legenden

Es gibt viele Aussagen über Korsetts, zum Teil sogar aus vertrauenswürdig erscheinenden Quellen, die falsche oder zumindest sehr zweifelhafte Aussagen über Korsetts verbreiten. Manche beruhen auf falscher Interpretation zeitgenössischer Quellen, manche auf Quellen, die – aus welchem Grund auch immer – übertreiben.

Die meisten Legenden ranken sich – wie könnte es anders sein – um besonders kleine Taillenmaße. Die "älteste" (d.h. sich auf die früheste Epoche beziehende) und extremste ist die, daß Katharina de' Medici, Königin von Frankreich im späten 16. Jh., von ihren Hofdamen eine Taillenweite von 13 Zoll verlangt haben soll. Da diese Maßeinheit in Europa nicht einheitlich war, kann das 30 bis 39 cm bedeuten. Die extremste heutige Exponentin des Engschnürens, Cathie Jung, schafft eigenen Angaben zufolge gerade mal 15 britische Zoll, also 38 cm - mit einem Sanduhrkorsett. Mit einem konischen Korsett des 16. Jh. ist solches selbst dann nicht zu erreichen, wenn man davon ausgeht, daß die Frauen damals kleiner waren – was auch zweigelhaft ist. Die Frage, ob so etwas schön ist, lassen wir hier mal lieber beiseite. Hier mehr zum Thema.

Die Taille der Kaiserin Sisi wird mal mit 40, mal mit 47, mal mit 50 cm angegeben. Schon allein diese Schwankungsbreite sollte Anlaß zu Zweifeln geben. Daß sie ein Opfer ihrer Eitelkeit war, steht allerdings heute außer Frage.

Einige frühe Fotos zeigen Frauen – meist Schauspielerinnen – mit extremen Taillen. Teilweise zeigt die unnatürliche Körperhaltung, daß das nicht der Normalzustand war (d.h. die Extremschnürung wurde nur kurzzeitig fürs Foto gemacht), teilweise wurde durch Retuschieren nachgeholfen, oder beides zusammen. Retuschieren war in der Frühzeit der Fotografie weit verbreitet und brachte wahre Künstler hervor, deren Leistungen heutigen Computeranimierern in nichts nachstehen. Nacktfotos der gleichen Zeit zeigen Frauen, die man heute nicht als schlank bezeichnen würde6. Auf Souvenirfotos sieht man Frauen, die selbst mit Korsett für das heutige Auge eher stämmig wirken. Die Mini-Taille war also offenbar eher die Ausnahme.

Es gibt Legenden, die behaupten, daß Frauen im 19. Jh. sich die unterste Rippe entfernen ließen. Wir reden hier wohlgemerkt von einer Zeit, als Ärzte (!) bezweifelten, daß unsichtbare Kreaturen (auch bekannt als Bakterien und Viren) tödliche Krankheiten verursachen können, obwohl Robert Koch bereits das Tuberkelbazillus entdeckt hatte. Die Idee, daß ein Chirurg sich vor der OP die Hände waschen solle, war noch nicht allgemein bekannt oder akzeptiert. Unter diesen Umständen ließ man sich nur operieren, wenn es um Leben und Tod ging. Die Idee, daß Frauen sich ohne Not eine Rippe entfernen ließen, ist lachhaft.

Erhaltene Kleiderschnitte geben für die Zeit um 1880 mittlere Taillenmaße von 58-64 cm an, für die 1890er (die für extremes Engschnüren bekannt sind) 54-60 cm. Bei einer durchschnittlichen Körpergröße von ca. 160 cm ist das nicht allzu weit von den natürlichen Maßen einer schlanken Frau entfernt. Siehe auch Historische Schnitte und die moderne Figur.

Eine weitere Gruppe von Legenden hat die Schädlichkeit von Korsetts zum Thema. Da ist zum Beispiel die Geschichte, daß Frauen sich eine Rippe gebrochen hätten, weil sie zu eng geschnürt waren, und dadurch zu Tode kamen. Tatsächlich habe ich vor Jahren einmal einen Scan einer Zeitungsmeldung online gefunden, von dem sicher eine Kopie in den Tiefen meiner Festplatte herumkrebst, wonach eine Dame einen Unfall mit einer Kutsche hatte, wobei sie sich eine Rippe brach, und weil die Dame Korsett trug, wurde die gebrochene Rippe nach innen gedrückt, wo sie lebenswichtige Organer verletzte. Da war aber das Korsett nicht ursächlich für ihren Tod, sondern nur ein verschlimmernder Umstand.

Da Korsetts heute normalerweise nicht mehr getragen werden und es daher an modernen Untersuchungen und Veröffentlichungen zum Thema fehlt, müssen die Verbreiter der Legenden sich auf zeitgenössische Ärzte berufen. Diese veröffentlichten Zeichnungen, die illustrieren sollten, wie sich die Organe durch das Einschnüren verlagern. Jetzt denken wir bitte einmal kurz nach: Woher wußten die Ärzte im 18. oder 19. Jh., was im Inneren des Torsos einer lebenden Frau vorgeht, während sie eingeschnürt ist? Das Röntgenverfahren gibt es erst seit 1895, und das kann weitestgehend nur Knochen abbilden. Weichteile wie Organe können nur durch Ultraschall oder Computertomografie abgebildet werden – beides Techniken des späten 20. Jh., als Korsetts schon längst kein Thema mehr waren. Das heißt, wir wissen eigentlich gar nicht, was das einschnüren ins Korsett tut. Aber es gibt einen Hinweis...

Das ist die Folge der Sendung "Quiz des Menschen" vom 2.10.2016 mit Eckart von Hirschhausen. In dieser Sendung wurde eine Burlesque-Tänzerin und geübte Engschnürerin in ein MRT gesteckt und dann geschaut, was mit den Oragenen passiert. Antwort: Nicht viel.

 

Literatur:

1) Waugh, Nora. Corsets and Crinolines. New York: Routledge, 1996.
Fontanel, Béatrice: Support and Seduction: A history of corsets and bras. New York: Harry N. Adams, 1997.
Junker, Almut, und Eva Stille. Dessous : Zur Geschichte der Unterwäsche 1700-1960. Frankfurt: Historisches Museum, 1991
2) z.B. Katalognummer 7 in J. Pietsch und K. Stolleis. Kölner Patrizier- und Bürgerkleidung des 17. Jahrhunderts. Riggisberger Berichte Bd. 15. Riggisberg: Abegg-Stiftung, 2008.
3) Verwirrenderweise bezeichnet die heutige Kostümliteratur ein enganliegendes Kleidoberteil oft als "Mieder", auch wenn es nicht versteift ist.
4) z.B. durch Artikel im Journal des Luxus und der Moden
5) siehe Historische Schnitte und die moderne Figur
6) Scheid, Uwe, und Michael Koetzle. 1000 Nudes
*) Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg