Herstellung eines Korsetts

Teil 2: Probestück und Anprobe

 

Weil ein Korsett richtig sitzen muß, sollte man nicht blindlings einem Kaufschnitt vertrauen, auch wenn er noch so gute Kritiken erhalten hat. Schließlich sind keine zwei Figuren genau gleich. Außerdem sind Korsettschnitte oft so modernisiert, daß sie auf heutige Körper passen, d.h. sie schnüren die Taille nur mäßig ein, während sie um die Hüfte herum nicht gar so weit sind. Das ist auch gut so, denn erstens hat eine Frau, die vom frühen Teenagealteralter an geschnürt wurde, einen entsprechend verformten Oberkörper, d.h. die Taille konnte leichter besonders eng geschnürt werden, und zweitens waren diese früh verformten Frauen eher die Ausnahme, als zeitgenössische Modekupfer es glauben machen. Erfreulicherweise gab es im späten 19. Jh. schon Fotografie, die die übertriebenen Modekupfer in ein realistischeres Licht rückt. Einerseits.

Andererseits beruht die Wirkung eines Korsetts, sofern der Oberkörper nicht verformt wurde, vor allem auf der Verdrängung weicher Masse, so daß eine dicke Frau sich oft eine Oberweite-Taille-Hüfte-Relation schnüren kann, die einer schlanken im Wortsinn den Atem nähme. Aber die weiche Masse muß irgendwo hin. Und zwar nach unten: Sie wird von der Taillenregion runter Richtung Hüfte gedrückt, in geringerem Maße auch von den Rippen nach oben Richtung Busen. Die moderne Ästhetik verlangt, daß die Taille schmal und der Bauch flach sei. Ein Korsett kann aber nicht beides gleichzeitig erreichen: Einen Tod muß man sterben*. Betrachte Madame Levy hier unten links: Die gute Frau hat einen stark vorgewöbten Unterleib, aber der Ästhetik ihrer Zeit nach eine verdammt gute Figur.

Ein Probestück muß her. Der Stoff dafür muß nicht so kräftig sein wie der für das Korsett – Hauptsache, er ist nicht dehnbar. Dafür muß man aber alle Tunnel machen, weil eine brauchbare Anprobe nur mit den Stäben möglich ist.

Madame LevyWenn Du besonders klein oder groß bist oder weißt, daß Deine Taille höher/tiefer sitzt als die Norm (Stichwort Sitzriese), solltest Du Deine Maße zuerst mit dem Papierschnitt vergleichen und größere Änderungen (d.i. alles über 1,5 cm Abweichung) gleich am Papierschnitt machen. Die Länge kann man anpassen, indem man alle Teile des Papierschnitts auf der gleichen Höhe durchschneidet (normalerweise oberhalb der Taillenlinie) und entweder zum Verkürzen zusammenschiebt und wieder zusammenklebt oder zum Verlängern einen Papierstreifen dazwischenklebt. Die Nahtkanten müssen dann natürlich begradigt werden.

Wir schneiden also aus Probestoff wie folgt zu: Jedes Teil viermal, das Teil mit den Vorder- bzw. Rückenkanten aber nur zweimal im Stoffbruch**. Die Nähte müssen sehr genau angezeichnet werden. Zeichne auch gleich die Tunnel mit an. An den Seiten gibt man viel Zugabe (ca. 2 cm), oben und unten aber keine.

Leg je zwei gleiche Teile paßgenau aufeinander. Steck/hefte sie zusammen, falls Du befürchtest, daß sie sonst beim Nähen verrutschen. Die im Stoffbruch zugeschnittenen Teile läßt Du einfach im Stoffbruch gefaltet. Jetzt werden die Teile doppellagig zusammengenäht. Nähe beim Zusammensetzen möglichst genau an den Nahtlinien entlang. Steppe die Tunnel wie im Schnitt angegeben. Die Tunnelnähte dürfen ruhig etwas ungenau sein, sofern nur ihr Verlauf richtig ist. Lieber etwas zu weit als zu eng.

Setze die Schließe ein: Leg das Teil mit den Nägeln zwischen die beiden Lagen, schieb es bis an den Stoffbruch, und halte es mit Stecknadeln dort fest. Wenn Du ein gerades Planchet benutzt, ist das Ende, wo die Nägel/Ösen dichter zusammenstehen, das untere Ende. Bei einem Löffelplanchet ist das breitere Ende unten. Oben und unten sollte mindestens 1 cm Luft zwischen den Enden des Planchets und der Stoffkante sein. Ist das Planchet so viel kürzer als die Vorderkante, daß mehr als je 2 cm Luft sind, setze es lieber höher, so daß oben maximal 1,5-2 cm Luft ist und unten mehr. Nimm ein spitzes Instrument, z.B. eine Nagelschere, bohre es über der Mitte jedes Nagels in den Stoff, und schiebe das so gemachte Loch mit der Schere über den Kopf des Nagels, zuerst auf der einen Seite, dann auf der anderen, als ob du ein besonders enges Knopfloch über einen kleinen Knopf zögest.

Leg dann das Korsett so hin, daß die beiden Vorderkanten genau gleichauf liegen, und leg das Teil mit den Ösen außen auf den Bruch der Vorderkante, auf gleicher Höhe wie das Teil mit den Nägeln. Du kannst das Planchet auch richtig zuhaken. Zeichne die Ober- und Unterkanten der Ösen auf dem Stoffbruch an und schneide jeweils zwischen den Markierungen vorsichtig Schlitze in den Stoffbruch, nicht zu groß, lieber einen Millimeter oder zwei zu klein. Schieb dann das Teil mit den Ösen zwischen die zwei Stofflagen und an den Stoffbruch heran, so daß die Ösen durch die Schlitze hervortreten. Hefte um beide Schließenteile herum, damit sie nicht verrutschen können.

Lege nun die Stäbe in die Tunnel ein. Sofern das Probeteil nicht zu kurz geraten ist, kannst Du die Stäbe später für das eigentliche Korsett weiterverwenden. Die Schnürung machen wir ganz lummelig, indem wir das Schnürband mit einer dicken Nadel direkt durch den Stoff fädeln. Eine Anprobe wird diese Schürung schon überstehen, zumindest dann, wenn Du die Stäbe einlegst, die entlang der hinteren Kante verlaufen: Sie verhindern ein Ausreißen.

Anprobe

Korsetts des 19. Jh. sind das, was man heute Halbbrustkorsett nennt, d.h. die Oberkante reicht maximal bis zu den Brustwarzen, wenn überhaupt. Die Brüste liegen relativ locker in den Körbchen; das Hemd verhindert, daß sie oben herausfallen. Für die Anprobe ist es daher wichtig, daß das Hemd, das später darunter getragen wird, schon fertig ist. Ein T-Shirt ist kein guter Ersatz (dehnbar), eine Bluse auch nicht viel besser. Bei der Anprobe einen BH zu tragen, ist absolut kontraproduktiv, weil er die Brüste verformt. Ich rate dringend davon ab, aus lauter Faulheit beim Probeteil die Stäbe wegzulassen und stattdessen über einem BH anzuprobieren. "Wer billig kauft, kauft zweimal" - und wer billig anprobiert, probiert viermal an. Mindestens. Und näht womöglich zwei Korsetts, bevor es halbwegs paßt. Tu Dir das nicht an, sonst feuerst Du das Teil entnervt in die Ecke, obwohl Du schon auf dem richtigen Weg warst.

Zieh das Probeteil über das Hemd und laß es so fest zuschnüren, wie Du meinst, daß Du es in Zukunft tragen wirst, sofern der Probestoff das aushält. Kurz bevor ganz zugeschnürt ist, zieh die Chemise vorne runter, indem Du sie auf Oberschenkelhöhe packst. Greif dann von oben in den Ausschnitt und unter jede Brust, heb sie hoch und laß sie ins Körbchen zurückgleiten. Die Korsett-Oberkante sollte nun in etwa auf Höhe der Brustwarze liegen, lieber geringfügig darunter, aber niemals darüber, damit sich die Kante später nicht unter dem Kleid abzeichnet. Die Brust darf aber auch nicht über die Oberkante hinausquellen - wenn das passiert, ist die Oberweite zu eng und die Körbchen müssen vergrößert werden (bzw. an der Naht zwischen vorderem Mittelteil und seitlichem Vorderteil zugegeben) wie in der Skizze unten, rechts.

Am Anfang darf es um Rippen und Taille ruhig etwas drücken: Das geht meist nach wenigen Minuten vorbei. Warte also mit dem Abstecken eine Weile und bewege Dich dabei etwas, bis Du sicher bist, daß das Probeteil überall eng genug, aber nicht zu eng anliegt. Die Schnürlücke hinten sollte zwischen 3 und 8 cm breit sein (wenn der Probestoff nur eine relativ lockere Schnürung zuläßt, eher größer) und dabei überall etwa gleich breit. Von der Taille abwärts darf die Lücke ein wenig weiter werden, es sei denn, der Probestoff läßt es nicht zu, so eng zu schnüren wie geplant: Je enger die Taille geschnürt wird, desto weiter sollte die Hüfte sein. D.h. wenn man das Probeteil nur relativ lose schnürt, sollte um die Hüfte herum eher noch Luft sein.

Abändern der Schnitteile und begradigen der Nahtlinien bei
(von links) zu enger Taille, zu weiter Taille, zu enger Oberweite

Ist die Schnürlücke nicht gleichmäßig, ist das ein Zeichen, daß das Korsett auf der entsprechenden Höhe zu eng oder zu weit ist. Ist die Lücke z.B. oben und unten gerade richtig, aber in der Taille deutlich schmaler, dann mußt Du in der Taille Weite wegnehmen. Hast Du einen "Fisch" (D.h. oben und unten schmal, in der Mitte breit), muß die Taille weiter geschnitten werden, aber Achtung: Vielleicht ist nur der Probestoff schuld, daß Du nicht eng genug schnüren konntest. Miß ab, um wieviel die Lücke zu klein/groß ist. Ist sie z.B. oben und unten 5 cm breit, in der Taille aber nur 2 cm, dann ist der Schnitt in der Taille folglich um 3 cm zu weit. Dividiere diesen Wert durch die vierfache Anzahl der Schnitteile und zieh diesen Wert nur in der Taille an jeder Kante des Schnittes ab. Begradige die Schnittkanten entsprechend (siehe Skizze). Bedenke aber, daß eine schmaler geschnürte Taille zu einer breitern Hüfte führt, d.h. Du mußt ectl. auch unterhalb der Taille zugeben.

Ebenso wird verfahren, wenn die Lücke an einer anderen Stelle zu breit oder zu schmal ist.

Wieso vierfach? Weil Du jedes Schnitteil zweimal hast (einmal links, einmal rechts) und dieses jeweils zwei Schnittkanten hat. Deshalb muß man die Nähte auch so genau anzeichnen und nähen: Weicht man beim Nähen einer Naht um 1 mm von der Anzeichnung ab, macht das 2 mm Weite aus. Kein Thema. Macht man aber die Anzeichnung überall um 1 mm zu groß, z.B. weil der Stift stumpf ist, werden bei vier Schnitteilen daraus 16 mm (4 Teile à 2 Schnittkanten, macht 8, mal zwei Seiten, macht 16). Das gilt in besonderem Maße, wenn später ein Oberstoff aufgelegt werden soll: Unterscheiden sich die Nahtlinien von Basis und Oberstoff nur um ein oder zwei Millimeter, könnte der Oberstoff über einer straff sitzenden Basis beuteln oder, schlimmer noch, die Basis zusammenziehen, so daß sich Falten bilden.

Quillt im Stehen etwas unter der Unterkante hervor, sollte das Korsett um die Hüfte herum weiter gemacht werden. Scheint die Hüfte zu weit, so daß es am Bauch absteht oder wellt, kann das daran liegen, daß das Probeteil nicht so eng geschnürt ist, wie es das endgültige Korsett sein wird: Je enger man die Taille zurrt, desto mehr wird die Hüftweite ausgefüllt von dem Speck, der von der Taille weg nach unten gedrückt wurde - sofern denn Speck vorhanden ist. Wenn das Probekorsett an einer eher schlanken Figur schon recht eng geschnürt ist, die Unterkante aber trotzdem noch mehr als nur ein bißchen absteht, dann muß in Hüfthöhe Weite weg. Bei einer eher dicken Figur hingegen könnte es nötig sein, die Taille noch enger zu nähen, so daß noch mehr Speck nach unten gedrückt wird - aber nur, wenn der Körper nicht sowieso schon lauthals "aua" schreit.

Setz Dich nun auf einen Stuhl und prüfe die Unterkante. Drückt das Planchet auf das Schambein? Dann ist es zu lang. Drückt der abgewinkelte Oberschenkel gegen die Unterkante? Dann muß die Unterkante dort weggeschnitten werden. Hier müssen v.a. dicke Frauen aufpassen: Der Wunsch, den Bauch durch ein langes Korsett wegzudrücken, ist übermächtig, aber voluminöse Oberschenkel können das ganze Korsett im Sitzen nach oben schieben, wenn es zu lang ist. Noch einmal: Ein vorgewölbter Unterbauch und eine große Hüftweite sind für das späte 19. Jh. absolut ästhetisch!

Falls eine Anpassung nötig war, vor allem eine in der Weite, solltest Du das Probeteil entsprechend abändern und noch einmal anziehen. Wieder über der richtigen Unterwäsche, mit allen, wirklich allen Stäben und vorzugsweise so eng geschnürt, wie es am Ende wirklich sein soll.

Bei der zweiten Anprobe, sofern sie nötig ist, sollte ein Helfer zur Hand sein, der weiß, worauf es ankommt. Es ist nämlich jetzt nochmal zu prüfen, ob das Korsett an einer Stelle zuviel Luft hat, an einer anderen zu eng ist, und ob genügend Stäbe an der richtigen Stelle vorhanden sind. Und wie erkennt man das alles? Eben, genau deswegen sollte der Helfer Ahnung haben: Das ist nämlich gar nicht so leicht. Das ist auch das Hauptproblem bei der Korsettherstellung – das Machen an sich ist vergleichsweise einfach.

Jemand mit reichlich Näherfahrung sollte in der Lage sein, die Problemstellen zu erkennen. Zwei Stellen sind vor allem wichtig: Die Brust und die Hüfte. Dazwischen muß sich der Körper dem Korsett anpassen. Die größte Gefahr ist, daß die Ober- bzw. Unterkante abstehen, weil der Schnitt dort weiter wird, der Körper das aber nicht ausfüllt. Richtig genau kann man das nur feststellen, wenn das Probeteil genauso eng geschnürt werden kann wie das fertige Korsett, denn nur in diesem Fall wird auch die richtige Menge weiche Masse verdrängt. D.h. wenn Du eine zweite Anprobe für nötig hältst, solltest Du dafür auch genau den Stoff verwenden, aus dem Du das eigentliche Korsett machen willst. Von der Oberkante war ja schon die Rede. Ebenso an der Hüfte: Der Bauchspeck sollte unterhalb der Kante möglichst nicht als Wulst hervorquellen, aber die Kante sollte auch nicht in die Luft ragen. An der Unterkante ist eine kleine Ungenauigkeit nicht so schlimm wie oben, weil die Röcke das verdecken. Stellen mit zuviel Luft sind leicht zu erkennen und zu interpretieren: Da muß einfach Weite weg, und zwar zuerst an der Schnittkante, die stärker gebogen ist. Wenn ein paar Millimeter an der einen Kante nicht reichen, muß an beiden Kanten weggenommen werden. Schwieriger sind Stellen, an denen sich diagonale Faltenwürfe zeigen: Dort, wo die Enden der Falten liegen, muß man evtl. Weite zugeben.

Falls die Änderungen mehr als nur im Millimeterbereich (pro Schnittkante) waren, ist es empfehlenswert, ein weiteres Probeteil zu machen und dieses wieder anzuprobieren. Das mag in der Wiederholung etwas ermüdend sein, aber ein wirklich gut sitzendes Korsett ist nicht nur um Längen schöner als ein hingemogeltes, sondern auch die Grundvoraussetzung dafür, daß die Kleidung darüber gut sitzt - und dafür, daß man es einen ganzen Tag lang darin aushält. Wenn das Korsett nicht gut paßt und auf Dauer wehtut, braucht man mit der Oberkleidung gar nicht erst anzufangen, weil sie über einem neuen, gut sitzenden Korsett vielleicht nicht mehr paßt.

Wenn Du sicher bist, das Korsett gut angepaßt zu haben, solltest Du Dir die Mühe machen, das Probeteil noch einmal auseinanderzunehmen, glattzubügeln und möglichst genau auf Papier zu kopieren: Früher oder später willtst Du bestimmt ein neues Korsett machen. Auch wenn Du jetzt, nach dem Anprobe-Marathon, die Nase gestrichen voll hast und das nie wieder machen willst: Genau deswegen solltest Du Dir das alles beim nächsten Korsett sparen. Und es wird bestimmt ein nächstes geben. Ich spreche aus Erfahrung.

 

Teil 3: Zusammensetzen

 

*) Erinnere Dich an das Schwamm-Luftballon-Beispiel in der Fußnote der ersten Seite.
**) Auch wenn Du ein einlagiges Korsett machen willst, ist für das Probeteil zweilagig einfacher zu machen und zu erklären.